Es schaffen - ein Abschied

Vor Kurzem ist die Frau des Pfarrers gestorben, der mich getauft und konfirmiert hat. Meine Eltern erzählten mir das gestern am Telefon. Erst war ich ein bißchen betäubt, dann bekam es Bedeutung für mich.

Diese Frau hatte einen Lebenstraum: Sie wollte Pfarrerin werden. Da sie aber während des Studiums ihren Mann kennenlernte und heiratete, wurde daraus nichts: Entweder konnte sie Pfarrerrin sein oder Pfarrersfrau. Ihr war das vollkommen bewußt, als sie sich für die Ehe entschied, und sie hat nie bereut, ihren Mann geheiratet zu haben, und dennoch hat sie noch mit weit über 70 damit gehadert, daß sie nie werden konnte, wozu sie fähig war, sondern immer in der zweiten Reihe stand. Ihr Mann war ein außerordentlich guter Pfarrer und sie hat ihn, soweit ich das beurteilen kann, hervorragend ergänzt.

Meine erste Begegnung mit ihr war in der Wendezeit. Vorher war ich nie in der Kirche, aus politischen Gründen. Ich war damals 9 oder 10 und eine Freundin nahm mich mit zur Christenlehre, weil ich neugierig war, was es mit diesem Gott wohl auf sich habe. Wir radelten ins Nachbardorf, wo die Kirche war, und trafen dort in einem kleinen Nebengebäude des Pfarrhauses auf ein Grüppchen von 5 oder 6 Kindern und die Pfarrersfrau. Ich weiß nicht mehr, worum es in der Christenlehrestunde ging, aber ich weiß noch wie heute, daß einer der Jungen etwas gelangweilt war und gegen Ende der Stunde eine Spielzeugpistole aus der Tasche holte und damit auf uns zu zielen begann - und wie die Pfarrersfrau reagierte. Wie der Zorn Gottes persönlich donnerte sie los. In diesem Moment war ich einfach nur eingeschüchtert, aber was sie sagte, hat sich eingeprägt, nämlich daß wir hier Christen und damit in einem Raum, in einer Gesellschaft wären, in der es um nichts so sehr geht wie um Frieden und der betreffende Junge solle auf der Stelle die Waffe wegpacken und damit nie wieder auch nur in die Nähe kommen.

Heute, als Erwachsene, die selbst 10 Jahre unterrichtet hat, bin ich beeindruckt von der Unverrückbarkeit ihrer Meinung, ihrer Authentizität und ihrem absoluten Anspruch schon an Kinder, solche Dinge begreifen oder zumindest darüber nachdenken zu müssen.

Diese Frau habe ich ab und an wiedergetroffen, obwohl ich recht bald weggezogen bin, und jedes Mal - wirklich jedes einzelne Mal - nahm sie mich beiseite, griff meine Hände, sah mir fest in die Augen und sagte: "Anke, Sie werden Ihren Weg gehen, davon bin ich überzeugt." Diese Frau hat fester an mich geglaubt, als ich selbst es zuweilen konnte, und weil sie so sehr an mich geglaubt hat, habe ich auch wieder damit angefangen. Ein Teil von mir wollte "es schaffen", was auch immer "es" ist, nur damit sie es sehen und lächeln kann.

Ich bin weit davon entfernt, "es zu schaffen", mein Berufsleben hat sich gelinde ausgedrückt nicht im Ansatz meiner Vorstellung entsprechend entwickelt. Genau wie sie arbeite ich aus Umständen, an denen ich nichts ändern kann, weit unter meinen Fähigkeiten und genau wie sie werde ich vermutlich mein ganzes Leben damit hadern, obwohl ich die Dinge, die ich tue, durchaus gerne tue.

Und nun ist sie tot, gestorben genau an ihrem 80. Geburtstag. Als ich das gestern unter Krokodilstränen meinem Freund erklärte, nahm er mich in den Arm und sagte: "Aber das wichtigste, was Du geschafft hast, hat doch gar nichts mit Musik zu tun. Du hast es geschafft, nach allem, was Du erlebt hast, ein so wunderbarer Mensch zu werden, das ist doch total toll."
Ach ja, dachte ich. Ich bin ja nicht nur Musik. Ich bin ja auch noch ich.


Aus: 101 Gründe, warum ich meinen Freund liebe

Kommentare

Cluheinke hat gesagt…
Ein bewegender Text voller tiefer Erfahrungen und Einsichten. Ja Anke,- gehe deinen Weg!
Musiksalon hat gesagt…
Vielen, vielen Dank!

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