Der Blick

Nervös kommt das Kind in den Unterrichtsraum. Ein fünfjähriges, ein zwölfjähriges, egal. Es braucht besonders lange, um seine Jacke aufzuhängen. Manche der kleineren gehen so weit, die warmen Stiefel lieber auszuziehen und dann nach einer Minute wieder anzuziehen. Schön langsam natürlich.
Umständlich werden die Noten aus der Tasche geholt, dreimal umgedreht, damit man sichergeht, daß auch die Überschrift am oberen Ende steht, und auf das Klavier gestellt. Das Kind setzt sich auf den Hocker. Die Arme hängen herunter, es starrt auf das Notenblatt. Es guckt zu mir, über die Schulter. Dann wieder auf die Noten. Mit einem vermeintlich unbemerkten Seufzer hebt es die Hände auf die Tasten. Und dann kommt er:

Der Blick.



Mit leicht gesenktem Kinn gucken zwei riesige Kulleraugen über die hochgezogenen Kinderschultern zu mir hoch. Die Augenbrauen sind in einer stummen Frage gehoben.

"Liegen meine Finger auf den richtigen Tasten?" fragt der Blick.
"Ist das das C, wo ich meinen Daumen drauf habe?" oder sogar:
"Hatte ich dieses Stück auf?"

Ich muß mir schwer das Grinsen verkneifen, nicke freundlich und das arme Kind beginnt zu spielen. Je nachdem, ob es schätzungsweise dreimal in der Woche geübt hat, nur einmal (eine halbe Stunde vor dem Unterricht) oder überhaupt nicht kommt der Blick erneut, mitten im Lied oder gleich im ersten Takt, und diesmal fragt er:

"Stimmt das alles noch so?" oder
"Kannst Du mich jetzt endlich korrigieren, damit ich nicht selber Noten lesen muß?" oder einfach
"Hilfe…?"


Kommentare

athena hat gesagt…
Oooooch.... Ich kann mir das grad richtig vorstellen. Drollig irgendwie. Und ein wenig Mitleid erregend.
Dennoch wäre so eine Tätigkeit nie für mich geeignet - oder umgekehrt ;) Ich glaube mir würde da jegliche Geduld fehlen. Auf die Dauer jedenfalls. Da könnten die Kulleraugen noch so groß sein.
Musiksalon hat gesagt…
:D *murmel*

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